Inhalt

Für jede Situation im Leben gibt es ein Lied.

Jedem Kapitel in diesem Buch ist ein Lied aus meiner Vergangenheit gewidmet,
das mich inspirierte, Geschichten meines Lebens in der DDR noch einmal in die Gegenwart zu holen.


Wie das Leben so spielt …
Das Inhaltsverzeichnis des Buches stand schon im Juni 2018 fest. Die Geschichten der Gegenwart und die dazu passenden aus der Vergangenheit entstanden erst so nach und nach.
Das war wirklich kurios.

 

Besser geht’s nicht
Als ich fortging  (Karussell)
Über sieben Brücken (Karat)
Am Fenster (City)
– Meine Mutter
– Mein Vater
– Mein Bruder
Zeit, die nie vergeht (Perl)
Was wird morgen sein? (Magdeburg)
Als ich wie ein Vogel war (Renft)
Jugendliebe (Ute Freudenberg)
Käfer auf’m Blatt (Chicorée)
Nie zuvor (Electra)
Auf der Wiese (Veronika Fischer)
Wind trägt alle Worte fort (Lift)
Sommer adé
(Schubert-Formation)
Sagte mal ein Dichter (Holger Biege)
Bataillon d’ amour (Silly)
Lebenszeit
(Puhdys)
Danke


 

Und hier eine kleine Leseprobe. Der Prolog beschreibt Jule, die Person, um die es geht, aus Sicht der Mutter:

Jule

Ich sitze in der S-Bahn und die Tränen rollen mir übers Gesicht. Weil ich kein Taschentuch dabei habe, schniefe ich lauthals. Eine junge Frau sitzt mir gegenüber und fängt an, in ihrer Tasche zu kramen. Sie findet ein Papiertaschentuch, reicht es mir und schaut mich dabei mitfühlend an, sagt aber kein Wort. Ich bedanke mich, quäle mir ein Lächeln ab und vergrabe mich gleich wieder in meine Gedanken, die sich nur um eines drehen: um Jule, meine Tochter.

Vor wenigen Augenblicken habe ich sie hinaus geschickt in die Welt, habe ihr gut zugeredet und viel Glück gewünscht. Dann gingen die S-Bahn Türen zu und wir winkten uns ein letztes Mal zum Abschied. Jule mit glänzenden Augen und Vorfreude auf das Abenteuer Leben. Ich mit bangem Herzen und der schier unerträglichen Vorstellung, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen würden.

Aber hätte ich sie deshalb zurückhalten oder sie von ihrem Vorhaben abbringen sollen? Das wäre mir wahrscheinlich auch gar nicht gelungen, denn wenn Jule einen Entschluss fasste, dann blieb sie auch dabei. „Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mich davon abzuhalten“, sagte sie, während sie mir bei einem Spaziergang eröffnete, dass sie in wenigen Tagen mit ihrem Freund über Ungarn in den Westen fliehen wolle. „Wir haben es uns gut überlegt und die Gelegenheit ist gerade günstig. In Ungarn haben sie den Schießbefehl aufgehoben.“

Verdenken kann ich es ihr nicht. Die aktuellen Ereignisse in Leipzig, Prag und Budapest überschlagen sich und niemand weiß, wo das hinführen wird. Jule hatte schon immer „Hummeln im Hintern“ und wollte raus in die Welt, deshalb war mir klar, dass ich sie irgendwann loslassen muss. Aber doch nicht so abrupt, so schnell, so überstürzt! „Eine Mutter sollte ihrem Kind nicht nur Milch, sondern auch Honig geben“, las ich mal irgendwo. Sie gehen zu lassen und ihr zu vertrauen, das ist wohl der Honig, von dem da die Rede ist. Trotz des Verlustes, der gerade sehr, sehr weh tut, wünsche ich ihr natürlich von ganzem Herzen, dass sie ihre Träume verwirklichen kann. Mein Mädchen, das mit ihren 18 Jahren doch gerade erst dabei war, erwachsen zu werden.

Ich steige am Berliner Hauptbahnhof um in den Zug nach Schwerin.  Während der gesamten Rückfahrt nach Hause male ich mir aus, was mich wohl erwartet, wenn die Stasi spätestens in einer Woche spitz kriegt, dass Jule nicht zurückkehren wird von ihrem Urlaub in Ungarn. Mein Puls rast bei dem Gedanken daran, dass ich vielleicht sogar abgeführt und zum Verhör gebracht werden könnte. Aber alles ist besser als dieser unerträgliche Schmerz, der mein Herz fast zum Zerspringen bringt.

Da steht sie nun vor mir mit leuchtenden und immer noch neugierigen Augen. Sie wird heute 50 Jahre alt und ich bin so stolz, dass sie meine Tochter ist. Komisch, sie sieht immer noch so aus wie das junge Mädchen, das ich vor 32 Jahren los gelassen habe. Noch heute bewundere ich ihren Mut, sich auf unbekannte Wege zu begeben. Vom Osten in den Westen, von Hamburg nach Madrid, von Madrid nach München, von München nach Berlin und schließlich von Berlin zurück nach Schwerin. Überall habe ich sie besucht und sie hat mir stolz ihr Leben gezeigt, was sie sich in der Zwischenzeit aufgebaut hatte. In Hamburg zogen wir zusammen durchs Nachtleben auf der Reeperbahn, in Madrid schleppte sie mich von einer Flamenco Bar zur nächsten, in München zurzelten wir an Weißwürsten und hoben die ein oder andere Mass im Biergarten und in Berlin tanzten wir, als gäbe es kein Morgen, in Clärchens Ballhaus.

Immer wieder hat sie freiwillig von vorn angefangen, sich dort, wo sie gerade war, eine neue Wohnung, einen Job und Freunde gesucht. Der Grund war immer der gleiche: Sie wollte Neuland entdecken. „Den Mutigen gehört die Welt!“, höre ich sie sagen. Und damit hat sie recht, denn es hat sich immer alles zum Guten gewendet für sie, auch wenn der Weg manchmal steinig war, das Gehen schwer fiel und es zwischendurch auch genügend Durststrecken gab. Durch ihre Art, offen auf Menschen zuzugehen, hat sie überall Freunde gefunden, die ihr bis heute die Treue halten. Ich kenne sie alle, entweder aus Jules lebhaften Erzählungen oder persönlich.

Ich bin erstaunt, wie sie es schafft, all die Freundschaften zu pflegen und den Kontakt nicht abreißen zu lassen, selbst wenn viele Kilometer dazwischen liegen. „Freunde bleiben, wenn Du Glück hast, dein Leben lang“, sagt sie immer „dafür lohnt es sich, dranzubleiben und Kontakt zu halten.“ Ich finde auch, dass es ein Geschenk ist, wenn man Freud und Leid mit Freunden teilen kann. Sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, gemeinsam zu lachen, zu weinen oder auch mal zu streiten, das ist wunderbar und es freut mich sehr, dass Jule dieses Geschenk zu schätzen weiß.

Ihren heutigen runden Geburtstag wollte sie mit uns und ihren Freunden feiern und ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, sie alle mal wiederzusehen. Doch die weltweite Corona Pandemie lässt nur eine kleine Familienfeier zu. Fast so wie früher, als die Welt für uns noch sehr begrenzt war durch den eisernen Vorhang.

Wenn ich sie so sehe, frage ich mich, was wohl aus Jule geworden wäre, wenn ich sie zurück gehalten hätte. Damals im September 1989.